Wie bereits angedeutet, beherrscht uns beim Übersetzen ständig das Gefühl, dass die Anforderungen wesentlich komplizierter sind, als der scheinbar offensichtliche Hintergrund aus Sprachwissen, Terminologie und Fachwissen vermuten lässt. Ein wesentlicher Teil dieses Gefühls besteht im permanenten Interpretationsbedarf bei der Bearbeitung von inhaltlich komplexen Texten. Nun sind kontrastives Sprachwissen und Fachwissen (jedes auf seine eigene Weise) eine große Hilfe beim Interpretieren.
Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fähigkeit des Interpretierens nicht nur eine Funktion dieser Wissensinhalte ist, sondern auch eine eigenständige Größe, die wiederum individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Im Endeffekt ist Sprache immer nur ein Medium. Dies gilt nicht nur für Autoren, sondern auch für uns Sprachmittler. Wir müssen unsere eigenen Gedanken und Wesenszüge aus unseren Produkten heraushalten, können uns jedoch keinesfalls hinter dem Medium der Sprache verstecken.
Unsere Vorstellung von geschriebenen Texten ist entscheidend von auflagenstarken Printmedien geprägt. Nur sind diese Texte sehr allgemeiner Natur, stammen von erfahrenen Vielschreibern und durchlaufen intensive Redaktionsprozesse. All dies führt zu einem hohen Maß an sprachlicher Unauffälligkeit. Auf den Leser wirkt die sprachliche Präsentation eindeutig und offensichtlich, was aber nicht den täglichen Erfahrungen von Autoren oder Übersetzern entspricht.
Auflagenschwache Fachtexte sind nämlich inhaltlich komplexer, die Autoren weniger im Schreiben geübt, und beim Redaktionsaufwand wird gespart. Das wichtigste Kapital des Fachübersetzers sind daher nicht Wörterbücher und Vokabellisten, sondern ein möglichst gutes Interpretationsvermögen. Oft muss er die Rolle eines Redakteurs quasi mit übernehmen. Das Produkt seiner Arbeit steht am Ende einer langen Kette von Einzelentscheidungen. Viele davon sind alles andere als eindeutig oder offensichtlich. Vielmehr ist es der Leser, der diese Offensichtlichkeit nachträglich hineininterpretiert, wenn der Übersetzer seine Sache gut gemacht hat.
Kontrastives Sprachwissen ist das wichtigste sprachliche Kapital des Übersetzers. Ein möglichst gutes Interpretationsvermögen wiederum ist sein wichtigstes außersprachliches Kapital. Die psychologischen Hintergründe dieser Fähigkeit können wir nicht diskutieren. Für uns besteht aber kein Zweifel, dass ihre praktischen Auswirkungen auf die Qualität von Übersetzungen so enorm sind, dass eine generellere Umdeutung der Tätigkeit in diese Richtung gerechtfertigt wäre.
Diese Fähigkeit ist eng verwandt, aber nicht gleichbedeutend mit Interpretationsvermögen. Die Bezeichnung »Fadenaufnahme« möge man verzeihen; konkrete Anregungen für eine treffendere Wortwahl nehmen wir gern entgegen. Gemeint ist die Fähigkeit zur Aufnahme des roten Fadens, den Einzelautoren oder federführende Autoren in ihren Texten unweigerlich hinterlassen. Defizite auf diesem Gebiet lassen sich durch andere Wissensinhalte sprachlicher oder fachlicher Natur allenfalls so kompensieren, dass man die Lücken mit Fachchinesisch zukleistert. Verständlichkeit und Klarheit kann man auf diese Weise nicht erzielen.
Anschaulicher wird das Phänomen vielleicht, wenn man es von der anderen Richtung betrachtet. Bei der Arbeit an Texten, die von einem federführenden Autor stammen, existieren Stadien der Bearbeitung, in denen plötzlich ein psychologischer Faden sichtbar wird, an den sich Inhalte verschiedenster Art anschließen. Solche Aha-Erlebnisse können »Dominoeffekte der Entterminologisierung« in Gang setzen. Vermeintliche Probleme sprachlich-terminologischer Art lösen sich dabei für den Übersetzer reihenweise gleichsam in Luft auf. Wirklich gelungene Übersetzungen kommen häufig erst dadurch zustande.
Dass dieses Phänomen real ist, zeigt sich schmerzlich an Texten ohne federführenden Verfasser. Autorenkollektive können Texte von ungeheurer Qualität liefern, den roten Faden für den Übersetzer aber schemenhaft undeutlich machen. Im Extremfall stellt sich für den Übersetzer nie das Gefühl ein, definierte Textabschnitte oder den gesamten Text quasi »geknackt« zu haben. Texte dieser Art können ungleich zeitraubender und schwerer zu bearbeiten sein.
Den Regelfall aller übersetzten Texte bilden aber Einzelautoren oder Arbeitsgruppen mit einem federführenden Autor. Und in diesem Regelfall kann alles Sprach- und Fachwissen dieser Welt versagen, wenn der Übersetzer den psychologischen Fingerabdruck des Autors nicht lesen kann. Produkte von solchen Anbietern können zu terminologischer Überfrachtung neigen. Ihr größtes Problem liegt aber darin, dass sie inhomogen und unklar bleiben oder zu einem Fantasieprodukt des Übersetzers geraten.
Jede Übersetzung hat naturgemäß zwei Seiten. Die Frage, ob bei Übersetzungen die Ausgangssprache oder die Zielsprache das größere Gewicht haben sollte, hört sich trivial an. Sie existiert aber, seitdem es Übersetzungen gibt. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die Antworten auf diese Frage weniger eindeutig als heute. Erhellende Aufklärungsarbeit leistete Fritz Güttinger in seinem Buch »Zielsprache« (1963). Mittlerweile herrscht weitgehend Einigkeit, dass der Weg zu guten Übersetzungen nur über eine angemessene Ausdrucksweise in der Zielsprache führen kann.
Diese Sicht hat sich dankenswerterweise im allgemeinen Bewusstsein durchgesetzt. Sie darf aber nicht so weit gehen, dass man aus diesem Blickwinkel gleich auch die Frage nach der korrekten Wiedergabe von Originalaussagen unter den Teppich kehrt. Allzu oft wird bereits davon ausgegangen, dass richtig sein muss, was gut klingt. Wer so denkt, unterschätzt grob die Anforderungen an das Textverständnis.
Natürlich gibt es auch praktische Gründe, warum Übersetzungen nur selten detailliert auf ihre inhaltliche Korrektheit beurteilt werden. Kunden können eine solche Beurteilung oft gar nicht vornehmen, weil sie die Ausgangssprache nicht verstehen. Auch viele Agenturen beschäftigen sich mit kaum mit Textinhalten. Zweifellos das größte Problem besteht aber darin, dass fundierte Übersetzungskritiken zeitraubender sind als die kritisierten Übersetzungen. Schon deshalb spielen sie im realen Geschäftsleben so gut wie keine Rolle.
© 2009-07-14 Wilfried Preinfalk. Alle Rechte vorbehalten.