Selbst wissenschaftliche Autoren denken immer wieder einmal in Kategorien, die sie noch aus dem Sprachunterricht im Gymnasium kennen. Drei Begriffe sind besonders oft zu hören: Rechtschreibung, Grammatik und Stil. Auffällig an diesen drei Kategorien ist vor allem das steile Gefälle in der Härte ihrer Regeln oder Gesetzmäßigkeiten.
Rechtschreibung lässt sich noch einigermaßen gut in ein Regelwerk fassen. Der Begriff der Grammatik schließt bereits ein derart breites Spektrum von Problemen ein, dass eine feinere Differenzierung oft wünschenswert wäre. Das Wort »Stil« wiederum dient im täglichen Sprachgebrauch für alles Mögliche. Problematisch erscheint uns vor allem die Tatsache, dass kleinliche Binsenweisheiten ebenso unter diesen Begriff subsumiert werden wie richtig erkannte Phänomene, die hochinteressant sein können, aber schwer zu beschreiben sind.
Mit entsprechend großer Vorsicht ist alles zu genießen, was als »Stilregel« gehandelt wird. Regeln dieser Art können immer nur relativen Charakter haben und im Einzelfall durchaus unangebracht sein. Viele der in Stil- und manchen Grammatikfragen kolportierten Halbwahrheiten sind deshalb schädlich, weil sie den Schreibenden zur willkommenen Fehldeutung verleiten können, dass ihre Befolgung ihn ein Stück weit von der lästigen Pflicht der inhaltlichen Denkarbeit entbindet. Genau diese Nachlässigkeiten jedoch schaden dem Text letztlich viel tiefgreifender als alle grob beschreibbaren Defizite in Rechtschreibung, Grammatik und Stil zusammen.
Die mangelnde Konkretheit im formlosen Umgang mit den Begriffen Grammatik und Stil ist bezeichnend dafür, wie sehr wir im Alltag an der Benennung von sprachlichen Problemen scheitern. Vielleicht wären wir besser beraten, insbesondere das Wort Stil konsequent zu vermeiden. Zumindest würde uns dies zu einer gedanklichen und sprachlichen Neuordnung aller vermeintlichen und tatsächlichen Probleme dieser Art zwingen.
Wie gut dies im Einzelfall gelingt, ist wieder eine andere Frage. Es ist nicht so, dass wir selbst das Wort Stil nicht in den Mund nehmen würden. Wir versuchen aber, zwischen verkürzender Logik und logischem Kurzschluss zu unterscheiden. So ist schlechter Stil etwas anderes als mangelnde Bereitschaft zur Investition in Denkarbeit. Beides wird aber schnell in einen Topf geworfen. Nachfolgend besprechen wir einige verbreitete Halbwahrheiten zum Thema Stil.
Es ist richtig, dass besonders schreibkundige Autoren mit kurzen Sätzen auskommen. Falsch sind aber die gängigen Umkehrschlüsse, wonach lange Sätze automatisch schwerer zu verstehen sind und kurze Sätze diese Verständlichkeit quasi garantieren. In Wahrheit können auch kurze Sätze wunderbar unverständlich und gut durchdachte lange Sätze sehr klar sein.
Man sollte bei dieser Diskussion nie vergessen, dass längere Sätze zunächst einmal unserem Gedankenfluss besser entsprechen. Nicht zuletzt wird dies daran deutlich, dass in der gesprochenen Sprache das Äquivalent des Punktes sehr viel seltener vorkommt als in der Schriftsprache (wie man schnell merkt, wenn man sich selbst und seinen Gesprächspartnern konzentriert zuhört). Genau deshalb bleiben gedachte Zusammenhänge durch Niederschreiben in längeren Sätzen auf natürlichere Weise erhalten. Kürzere Sätze erfordern mehr Abstraktionsvermögen und bewussteres Abrücken von den Konventionen der gesprochenen Sprache.
Der Lernprozess führt also normalerweise von längeren Sätzen hin zu kürzeren Sätzen. Nur gelangt man dorthin nicht einfach, indem man längere Sätze willkürlich zerhackt. Diese Vorgehensweise ist im Gegenteil schädlich, weil die inhärenten logischen Verknüpfungen in längeren Sätzen dadurch leicht zerstört werden. Im Idealfall sollte man komplexe Aussagen sehr wohl in möglichst einfache Sätze verpacken, die prägnant formuliert und sauber verknüpft sind. Nur ist dies nicht ganz einfach.
Oft wird irreführend die Meinung vermittelt, dass Autoren zu kompliziert denken, sich also quasi das Leben beim Schreiben schwerer machen als nötig. Diese Betrachtungsweise ist in aller Regel oberflächlich und verkennt die inhaltliche Komplexität, mit der sich Fachautoren beim Schreiben oft herumschlagen. Kurze Sätze sind nicht das Natürlichste auf der Welt, sondern benötigen Erfahrung und/oder Zeit zum Nachdenken. Wer weder Erfahrung noch Zeit hat, wird seine Botschaften in längeren, aber möglichst geradlinigen Sätzen natürlicher und einleuchtender vermitteln können.
Ähnlich fragwürdig ist das Dogma der Passivvermeidung. Wieder liegt das Hauptproblem in der falschen Kausalität: Kein Autor schreibt deswegen verständlich, weil er Aktivkonstruktionen bevorzugt. Bei wissenschaftlichen Texten kommt zu diesem allgemeinen Problem noch ein spezielles. Das Passiv besitzt dort nämlich legitime Funktionen, an denen generisches Stilfibeldenken abprallt. Vor allem kann das Passiv die Erzählperspektive objektivieren, indem es das Objekt zum Subjekt macht.
Stilberater, die über Struktur und Wesen von Publikationen mit naturwissenschaftlichem Anspruch nicht viel wissen, werden sofort gewisse sprachliche Merkmale an diesen Texten kritikwürdig finden. Gegen die fast schon »genretypischen« Passivkonstruktionen in medizinischen Studien richtet sich der erhobene Zeigefinger besonders gern. Sobald man aber konkret alle Alternativen der für Aktivkonstruktionen notwendigen grammatischen Personen und Pronomina durchforstet, wird man zugeben müssen, dass in vielen dieser Fälle eine ebenbürtige Alternative zum Passiv überhaupt nicht existiert (im Englischen noch weniger als im Deutschen).
Passivkonstruktionen werden also im Rahmen dieser Textsorte stets einen hohen Stellenwert haben. Selbstverständlich besteht immer die Gefahr der Übertreibung, und eine gewisse Abwechslung kann nie schaden. Wichtig ist auch hier, dass der Autor seine Entscheidungen nach gründlichem Nachdenken trifft und vermeintliche Stilregeln nicht dogmatisch befolgt. Denn auch die Regel der Passivvermeidung ist nur so viel wert, wie sie den Autor in seinem Bemühen um Transparenz und Lesefreundlichkeit entlastet. Als Dogma wird sie zum Klotz am Bein und somit kontraproduktiv.
Eine Frage des vernünftigen Ausgleichs ist auch die Gewichtung von Texten nach Zeit- und Hauptwörtern. Unabhängig von der Sprache sind verbal aufgelöste Formulierungen stets dynamischer, lebendiger und somit direkter zugänglich. Andererseits ist diese Dynamik nicht für jeden Gedanken im gleichen Maß wünschenswert, sodass die eher statisch wirkende Substantivierung ebenfalls eine legitime Rolle spielt, die durchaus nicht zu unterschätzen ist.
Ohnehin sind der Wahlmöglichkeit durch die Regeln des deutschen oder englischen Satzbaus klare Grenzen gesetzt. Prinzipiell neigt das Englische viel stärker zur verbalen Auflösung als das Deutsche. Ein Faktor dabei ist, dass starkes Verbalisieren zu mehr Nebensätzen führt. Deutsch ist hier insofern ein Sonderfall unter den großen europäischen Sprachen, als das Verb ans Ende des Nebensatzes wandert. Hinzu kommt, dass viele zusammengesetzte Verben sowie reflexive und andere Konstruktionen in unübersichtlicher Weise getrennt werden. Unser Antizipationsvermögen für die Auflösung solcher Konstruktionen ist zwar sehr gut entwickelt. Dennoch ist auch unsere Geduld mit Spannungsbögen dieser Art endlich.
Substantivierende Konstruktionen können in dieser Situation bis zu einer gewissen Länge entlastend und verkürzend wirken. So gesehen können sie gegenüber den Nebensätzen, die sonst notwendig wären, je nach Gewichtung und Dynamik der Aussage die bessere Alternative darstellen. Zwischen den beiden Extremfällen der konsequenten Verbalisierung und konsequenten Substantivierung ist viel Raum für Mischformen. In manchen Grenzfällen sind selbst noch bei längeren Sätzen zwei völlig gleichberechtigte Versionen denkbar, die man je nach Geschmack konsequent verbalisieren oder substantivieren könnte.
Auch das Englische erlaubt eine gewisse Substantivierung. Die Möglichkeiten hierzu sind aber sehr viel bescheidener als im Deutschen. Hinzu kommt, dass Nebensätze durch die geradlinigere Wortstellung im Englischen direkter und leichter zugänglich sind.
Im Deutschen hingegen können selbst noch Konstruktionen mit allerlei Substantiva und Substantivierungen, die sehr umständlich und verquast erscheinen, innerhalb der sprachlichen Möglichkeiten liegen. Sie sind auch weder besonders selten zu lesen, geschweige denn zu hören. Dem Sprachsystem muss ein Hang zu solchen Formulierungen innewohnen, denn selbst für Verbalisierungen, die eindeutig das Satzverständnis fördern, muss man hier viel eher einmal als im Englischen »gegen den Strom denken«.
© 2009-07-14 Wilfried Preinfalk. Alle Rechte vorbehalten.