Diese Diskussion haben wir bewusst ans Ende des Ratgebers gesetzt. Zum einen ist damit eine relativierende Wertung beabsichtigt. Zum anderen erfordern die Überlegungen, die unseres Erachtens zwingend zu dieser Wertung führen, doch einen gewissen Raum, den wir hier an unauffälliger Stelle erübrigen können. Eine Klarstellung in eigener Sache ist ebenfalls angebracht: Sosehr wir der Vernunft zur Ehre gegen eine Überbewertung von orthografischen Problemen sind, so entschieden wenden wir uns gegen jede Verwässerung von Grundsätzen in den eigenen Reihen. Von Sprachmittlern darf und muss man einen professionellen Umgang mit Rechtschreibung fordern. Mehr zu diesem berufsspezifischen Thema finden Sie hier.
Für Fachautoren hingegen ist die Rechtschreibung ein Mittel zum Zweck von bescheidener Relevanz, da Formalien des Sprachsystems hier nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen. Gerade das weite Feld der deutschen Rechtschreibung zeigt aber Besonderheiten, die für deutschsprachige Autoren auch dann nicht ganz unwichtig sind, wenn sie in englischer Sprache publizieren. Denn erstens führt eine genauere Kenntnis der Sachverhalte weg von der Fehleinschätzung, dass ähnlich hochabstrakte Wirrnisse wie vor der eigenen Haustür auch in anderen Sprachen existieren müssen. Grabenkämpfe rund um orthografische Streitfragen, wie wir sie jüngst erlebt haben, sind in den englischsprachigen Ländern weitgehend unbekannt. Wenn solche Diskussionen dort überhaupt geführt werden, dann auf einem vergleichsweise harmlosen Niveau.
Unsere Forderung nach einem kritisch geschärften Bewusstsein hat aber noch einen bedeutend wichtigeren Grund. Dieser liegt darin, dass in der deutschen Sprachgemeinschaft weit überzogene Vorstellungen vom Stellenwert orthografischer Details herrschen. Mit anderen Worten: Unsere Gesellschaft ist in ihrer Auffassung von geschriebenen Texten viel zu stark auf Fragen der Rechtschreibung fixiert.
Diese Fixierung hat zwei höchst unangenehme Auswirkungen. Zum einen manifestiert sich diese Geisteshaltung verbreitet als traurige Kluft zwischen Anspruch und Realität, die den Weg zu einem befriedigenden Modus vivendi mit eigenen Einschränkungen blockiert. Viele Menschen predigen also gleichsam Wein und trinken Wasser, oder sie bleiben lebenslang in einer mehr oder weniger uneingestandenen Abwehrhaltung gefangen.
Nüchtern betrachtet sind beide Haltungen unnötig, da ohnehin fast niemand das gesamte Regelwerk der deutschen Rechtschreibung lückenlos beherrscht. Einige Zitate aus dem Vorwort einer älteren Duden-Ausgabe verdeutlichen unsere Haltung zu diesem Thema noch besser. Die Rechtschreibung ist demnach »kein Selbstzweck und erst recht kein Gradmesser für Begabung und Intelligenz«. Man sollte sie nicht überbewerten, sondern als das betrachten, »was sie ausschließlich sein soll, nämlich ein geeignetes Mittel zur Erleichterung der schriftlichen Kommunikation«.
Dieser erste Effekt unserer Rechtschreibfixierung mag unangenehm und zuweilen unappetitlich sein. Ihr zweiter Effekt ist hingegen schädlich. Neben der angesprochenen Kluft zwischen Anspruch und Realität führt sie nämlich auch dazu, dass unser kritisches Auge zu sehr an der Oberfläche von Texten haftet. Unser Sensorium für Defizite auf tieferer Ebene bleibt dagegen unterentwickelt. So zeigt die Erfahrung, dass die meisten Menschen heillos mit der Frage überfordert wären, inwieweit ihnen die Bedienungsanleitung für ein technisches Gerät dessen Funktionen begreiflich gemacht hat oder inwieweit sie die Funktionen durch eigenes Hantieren ausgelotet und erst mit diesem praktischen Wissen den Text verstanden haben.
Mit anderen Worten: Wir neigen dazu, Texte unterhalb der orthografischen Ebene überhaupt nicht als eigene Kategorie mit eigenen Qualitätsunterschieden wahrzunehmen. Geschweige denn begreifen wir, wie eklatant diese Unterschiede sein können. Mit solchen Kommunikationsdefiziten sind wir als Gesellschaft im großen Stil konfrontiert. Wenn es so etwas gibt wie volkswirtschaftliche Relevanz eines sauberen Umgangs mit Sprache, so wären die notwendigen Kämpfe ohne Zweifel in dieser Arena auszufechten.
Unglücklicherweise jedoch führen wir mit viel größerer Begeisterung kulturkampfähnliche Diskussionen zu Bindestrichen, Apostrophen oder Leerzeichen, die ähnlich gravierende Effekte (von bizarren Ausnahmefällen abgesehen) gar nicht haben können. Die größten Probleme im Zusammenhang mit Sprache entstehen nicht etwa aus sinnstörenden Rechtschreibfehler oder Formalien anderer Art, sondern aus mangelnder Bereitschaft zur Investition in Denkarbeit.
Woher aber stammt diese hartnäckige Fixierung? Es handelt sich um historische Phantomschmerzen von einst autoritären Strategien zur Durchsetzung einer einheitlichen Rechtschreibung. Diese wiederum kann man als Folgeerscheinung von ähnlichen Strategien zur Durchsetzung des Hochdeutschen verstehen und trägt somit »preußische« Züge. Das Regelwerk der Rechtschreibung, wie wir es heute kennen, geht in allen wesentlichen Belangen zurück auf das späte 19. Jahrhundert und diente primär der Vereinheitlichung. Die verfolgten Ziele waren somit eminent praktischer Natur, vergleichbar dem Straßenbau oder der Elektrifizierung.
Allerdings ist dieser Prozess nach praktischen Gesichtspunkten bereits seit Generationen abgeschlossen. Entsprechend lange schon bestehen zwischen Menschen mit einer gewissen Schulbildung keine schriftlichen Kommunikationsdefizite mehr durch orthografische Probleme, die den Lesefluss verlangsamen oder gar das Verständnis gefährden könnten.
Die angestrebte Vereinheitlichung war auch ein maßgeblicher Grund für die Kompliziertheit des im ausklingenden 19. Jahrhundert geschaffenen Regelwerks. Dieser Komplexität wiederum verdanken wir die formalen Defizite, die wir heute selbst noch bei gebildeten Menschen als Rechtschreibfehler wahrnehmen. Zur Behebung dieser sichtbaren Defizite wird seit langem eine zweite Reform ins Auge gefasst. Hier geht es aber nicht mehr um die bessere Verständlichkeit von geschriebenen Texten, sondern um ihre einfachere Herstellung.
Nun wurde zwischen 1998 und 2006 eine Reform umgesetzt. Die Erinnerung daran ist in den meisten von uns noch lebendig, weil sich der Prozess über Jahre hinzog und mit starken Geburtswehen verbunden war. Anhaltender Widerstand hat den Reformern viele Kompromisse abverlangt, die dazu geführt haben, dass der Reformzweck einer Vereinfachung letzten Endes verfehlt wurde.
Nüchtern betrachtet muss man also sagen, dass die Reform an ihrem Anspruch gescheitert ist. Nur kann man aus der neuen Situation sehr unterschiedliche Schlüsse ziehen. Zugespitzt könnte man sagen, dass sich die deutsche Sprachgemeinschaft glücklicherweise als kohärent genug erwiesen hat, um sich die gewonnene Einheit durch die zweite Reform nicht mehr nehmen zu lassen.
Milder wäre die Feststellung, dass in den vergangenen Jahren mehr Verwirrung als Klarheit geschaffen wurde. Denn die zahlreichen Kompromisse haben einen zuvor ungeahnten Spielraum an freien Wahlmöglichkeiten hinterlassen. Diese neue Situation wiederum hat auch ihr Gutes. Sie ist nämlich im besten Begriff, den kollektiven Stellenwert der Rechtschreibung insgesamt zu relativieren. So gesehen bieten die aktuellen Entwicklungen vielleicht doch noch einen Ausweg aus unserer Fixierung.
Besonders einfach ist auch die englische Rechtschreibung nicht. Die Schwierigkeit liegt jedoch, anders als im Deutschen, nicht in einem hochkomplexen Regelwerk, sondern in der historischen Abkoppelung der gesprochenen von der geschriebenen Sprache. Vereinfacht ausgedrückt wurde im England der frühen Neuzeit so gesprochen, wie heute noch geschrieben wird. Dass eine umfassende Aktualisierung seither keine Chance auf Verwirklichung hatte, liegt nicht zuletzt an der bemerkenswerten literarischen Tradition des Landes. Grob gesprochen vereitelten also Personen wie Shakespeare oder die Übersetzer der King-James-Bibel eine Rechtschreibreform.
Wenn wir die englische Rechtschreibung dennoch als weitgehend unproblematisch ansehen, ist dies dem Umstand zu verdanken, dass es sich um gut vermittelbares Faktenwissen handelt, das unser Gymnasialenglisch angemessen abdeckt. Hinzu kommt, dass wir aus dem gleichen Grund (weil es sich um geradliniges Faktenwissen handelt) heute über einschlägige Funktionen der Textverarbeitung verfügen, die wirklich gute Ergebnisse liefern.
© 2009-07-14 Wilfried Preinfalk. Alle Rechte vorbehalten.